„Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn die betreffenden Individuen es wollen, kaum eine Gelegenheit zu vielfacher und unauffälliger Masturbation so geeignet ist, wie sie beim Radfahren sich darbietet. So bietet der Sitz, rittlings mit ausgespreizten Schenkeln, ausreichend Möglichkeit, solchem Hange nachzugehen. (…) Wenn das zarte Geschlecht absolut das Bedürfniss zur Betätigung seiner Strampelkraft fühlt, so kann es diese ebenso gut an der Nähmaschine efektuieren.“
Frauen auf dem Fahrrad – das kann nicht gut gehen, sorgte sich mancher Mann im ausgehenden 19. Jahrhundert: Es galt die Moral der Frau zu retten, denn an ihr hing schließlich die Macht des Mannes. Eine Frau auf dem Rad, das würde ein Ende der Verfügbarkeit und den Beginn innerer und äußerer Freiheit einläuten: Schluss mit den einschnürenden Korsetts, die Frauen regelmäßig zur Ohnmacht trieben; abgehängt die kontrollierenden Anstandsdamen; weg mit den langen Reifröcken und her mit den bislang absolut unstatthaften Hosen! Sodom und Gomorra. Doch die Zeit zur gesellschaftlichen Veränderung war reif und alle libidinöse Bedenkenträgerei umsonst: Die Damen begannen aufs Rad zu steigen und unabhängiger zu werden vom häuslichen Rahmen der Eltern oder des Ehemanns.
„Das Bicycle“, behauptete die Österreichische Frauenrechtlerin Rosa Mayreder Anfang des 20. Jahrhunderts denn auch, „hat zur Emanzipation der Frau mehr beigetragen als alle Frauenbewegungen zusammen.“ Dieser Beziehung zwischen Frau und Rad war jedoch hart erkämpft worden. Amalie Rother etwa schildert ihre erste Radtour zu Beginn der 1890er Jahre mit Freundin durch Berlins Zentrum wie folgt: „Und endlich wurde auch eines schönen Nachmittags vom Blücherplatz aus gestartet. Sofort sammelten sich hunderte von Menschen, eine Herde von Straßenjungen schickte sich zum Mitrennen an, Bemerkungen liebenswürdigster Art fielen in Haufen, kurz, die Sache war das reinste Spiessrutenlaufen, so dass man sich immer wieder fragte, ob das Radfahren denn wirklich alle die Scheusslichkeiten aufwöge, denen man ausgesetzt war. Eigentümlich war dabei, dass am rüdesten und gemeinsten sich nicht die unterste Volksklasse benahm, sondern der Pöbel in Glacéhandschuhen. Das Komischste leistete eine alte Dame in Berlin W. Sie stand auf dem Bürgersteig und sah mich ankommen. Ihr Gesicht zeigte ein derartiges starres Entsetzen, dass ich unwillkürlich in langsamstes Tempo fiel und sie mir genau ansah. Während ich ganz langsam bei ihr vorbeifuhr, platzten ihr plötzlich die Worte heraus: „Das ist ja gar nicht möglich!“
Ganz unmöglich war das Radfahren zu dieser Zeit in der Tat noch für Arbeiterfrauen. Der Preis eines Fahrrades war so hoch, dass wenn überhaupt eine solche Anschaffung getätigt werden konnte, sie dem Manne überlassen werden musste. Erst mit dem Beginn der Massenproduktion um die Jahrhundertwende änderte sich das, nun stiegen auch Arbeiterfrauen auf den Sattel. Damen aus besser situierten Kreisen hatten da schon Abenteuerfahrten weit jenseits städtischen Asphalts unternommen.
So bericht etwa Margaret Valentine Le Long über ihre Reise von Chicago nach San Francisco (1898): „Unbeirrte durch die Opposition aller Freunde und Bekannte setzte ich meine Vorbereitungen für die Radreise fort. Diese waren nicht allzu umfänglich. Unterwäsche zum Wechseln, ein paar Toilettenartikel und ein sauberes Taschentuch schnallte ich auf meinen Lenker, und eine geborgte Pistole steckte ich extra in meine Werkzeugrolle. Und so startete ich eines Morgens im Mai unter einem vielstimmigen Chor von Prophezeiungen für gebrochene Glieder, Tod durch Verhungern oder Verdursten, Verführung durch Cowboys oder Skalpiertwerden durch Indianer.“
Schon vier Jahre vorher hatte sich die gebürtige Lettin und neu us-Amerikanerin Annie Londonderry auf die Reise gemacht. Als erstem Menschen überhaupt gelingt ihr die Umrundung der Welt auf dem Fahrrad. Wie bei Frauen üblich, gerät ihre Tour jedoch in Vergessenheit, stattdessen findet sich etwa bei Wikipedia der Hinweis „ein von Londonderry behaupteter Abstecher auf die Schlachtfelder des Japanisch-Chinesischen Krieges“ sei „eher unwahrscheinlich – so wie viele andere Geschichten, die sie unterwegs oder nach ihrer Rückkehr erzählte“.
Immerhin: Radfahrende Frauen sind heute im Guten wie im Schlechten kein Thema mehr. So sucht man etwa Berichterstattungen über aktuelle Fahrradrennen meist vergeblich. Zugleich verliert niemand mehr eine Zeile über die Alltagsradlerin. Ob im kurzen Rock, Kostüm oder in Funktionskleidung: Frauen auf Rädern sind selbstverständlich. Hierzulande. Denn wie es die US-Feministin Susan B. Anthony 1896 in einem Interview mit der ‚New York World’ formulierte: „Ich stehe da und freue mich jedes mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad sehe. Es gibt Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen.“ Und das gefällt nicht jedem. Bis heute „schickt es sich“ für Frauen in den meisten muslimischen Ländern nicht, Rad zu fahren. Das altbekannte Spiel von Moral und Macht.
So hat das Rad also bereits Großes zur Emanzipation der Frau beigetragen. Möge es am laufen bleiben.